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Reise in die Gegenwart

von Nisaar Ulama
erschienen zur Ausstellung “Etna Carrara”, Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, 24.06.– 02.09.2012.
Bild: Yala Juchmann, o.T. (Faltung #27)

Museen sind Zeitmaschinen. Sie lassen uns teilhaben an einer Welt des Vergangenen. Vielleicht müsste man genauer sagen: An der Art und Weise, wie Kunstwerke innerhalb eines bestimmten historischen Kontextes eine Welt entworfen haben. Die Verbindung zwischen diesem Weltentwurf und seinen gesellschaftlichen Bedingungen nennen wir »Zeitgeist«.

Museen sind allerdings ganz besondere Zeitmaschinen. Sie ermöglichen zwar keine Reisen in die Zukunft, dafür aber in die Gegenwart. Ob eine Ausstellung zeitgenössische Kunst oder frühgeschichtliche Artefakte zeigt, unser Blick fällt auf eine dichte Schicht von Gegenwart. Was wir sehen ist nicht die Vergangenheit, sondern unser gegenwärtiges Bild der Vergangenheit.
Wer diese Reise zu einem Verständnis unseres Jetzt aufnimmt, begibt sich in einen exzeptionellen Raum: meist in den Zentren unserer Städte gelegen, zugleich aber doch ein Ort der Distanz. Diese räumliche Freiheit ist essentiell, denn Kritik ist nur dort möglich, wo Menschen Distanz einnehmen können. Für einen distanzierten Blick (gr. theoria) gilt es, einen Schritt zurückzutreten. Die Alternative zu dieser Distanz ist eine geistige Kapitulation vor unserer Gegenwart.

Wir können zurzeit beobachten, wie schwer es fällt, sich aus dieser geistigen Kapitulation herauszubewegen, die immer auch eine sprachliche Kapitulation ist. Wenn »Zeitgeist« die Art und Weise meint, wie wir eine Welt machen, dann ist diese Welt davon abhängig, welche Sprache und Bilder wir finden, um Öffentlichkeit herzustellen. Doch diese Imaginationsfähigkeit kommt uns derzeit abhanden – vielleicht, weil wir in gleichem Maße das Verständnis für die wesentlichen Mechanismen unserer Welterzeugung verloren haben. Es ist mitnichten eine neue Erkenntnis, dass technische Entwicklungen immer ihrer geistigen Durchdringung voraus sind; aber das alte Problem ist immer noch virulent.

Zum Beispiel in einer Gesellschaft, die besessen ist vom Sicht- und Abbildbaren, um sich in der Sicherheit eines Mehr an Kontrolle zu wähnen, und die deswegen immer weniger die blinden Flecke ihrer Aufrüstung verkraften kann.

Es stellt vom technologischen Standpunkt kein Problem dar, dass wir mit einer globalen Ökonomie konfrontiert sind, für die »Handel« nur eine Bezeichnung für das Produkt aus Rechenzeit und Datengeschwindigkeit, minus rechtlicher Rahmenbedingungen ist. Es stellt aber sehr wohl ein politisches Problem dar, wenn die Wirklichkeit einer Schieflage dieses stets nur als »Finanzsystem« bezeichneten Phantoms weder vom Souverän jeder Demokratie, dem Volk, noch seinen Repräsentanten eingefangen werden kann – und das sowohl epistemisch (beide verstehen es nicht) als auch politisch (sie werden nicht gefragt).

Dasselbe gilt, wenn sich Fortschritt als eine immer simpler zu handhabende und rasant wachsende Digitalisierung unserer Welt – letztendlich auch unser Persönlichkeit – zeigt, wir aber sprachlich und rechtlich davor kapitulieren, dass die Erzeugnisse unseres Handelns einen unsicheren ontologischen Status haben.

Das gilt auch für ein Europa, das die Propaganda der Grenzenlosigkeit des technologischen Fortschrittes genießt, während dieser ein nie dagewesenes Regime der Grenzkontrolle ermöglicht.

Und nicht zuletzt stellt das Klammern an einer wohlgeordneten Natur den verzweifelten Versuch dar, aus den Aporien unserer Gegenwart zu flüchten; aber nur um zu vergessen, dass »die Umwelt« nur ab dem Moment entstehen konnte, wo »der Mensch« sich in das Zentrum der Welt setzte.

Dies sind nur wenige, beliebige Vorschläge für das, was jetzt unseren Zeitgeist ausmacht. Weil wir uns nicht darauf verlassen können und sollten, dass unsere politischen Repräsentanten, die sogenannte vierte Gewalt der Medienkanäle, oder Vertreter der unzähligen Interessenverbände eine Sprache für jene Phänomene finden, die demokratisch satisfaktionsfähig ist, brauchen wir Kunst.

Die Wahrheit eines Kunstwerkes ist bestenfalls unvereinbar mit jener Droge der im Überfluss vorhandenen Realität, die uns die tägliche Dosis Bilderflut verabreicht. Kunstwerke sind gelegentlich schwer fassbar, verstörend oder sogar ärgerlich, und auf jeden Fall immer leicht zu kritisieren. Aber mit diesem Abstand zu einer Welt, die alles immer genau weiß, lässt die Wahrheit eines Kunstwerkes umso schärfer fassen, was wir mit dem unscharfen Begriff »Zeitgeist« bezeichnen.

Man wird deshalb einem Kunstwerk immer die politischen Umstände seiner Herstellungsbedingungen ansehen: Die Wirklichkeit einer demokratischen Öffentlichkeit ist so fragil wie die eines Kunstwerkes – und beide sind aufeinander angewiesen. Wenn wir einer gelungenen Zusammenkunft der beiden beiwohnen, ist dies vielleicht der Moment, vom Zeitgeist im emphatischen Sinne zu sprechen.